Auszüge "Nachtbaden"
1. ,Hey, warum lachst du?‘, das ist ihre Begrüßung, wow, wenn sie jetzt noch sagt ,es ist schön dich wiederzusehen’, dann kotz’ ich, oder ich trete hier der Canasta-Runde bei. Ich höre auf zu lachen, sehe sie an und sie sieht nur zurück, und ich wünschte mir, sie würde scheiße aussehen, halt den Umständen entsprechen, rasierter Kopf, oder wenigstens einen Nasenring, einen riesigen, das wäre okay, dann würde ich jetzt vielleicht sogar mit ihr reden können, so was Dämliches sagen wie ,was ist denn mit dir passiert’ oder ,wie hat es denn soweit kommen können’, aber sie sieht richtig gut aus, wie das Bild von ihr in meinem Kopf, das am längsten gebraucht hat um zu verschwinden, Unterhüfthose, Kapuzenpulli, die Kapuze nur halb über den Hinterkopf geschoben, die rötlichen Haare vor sich her schiebend, ganz in die Stirn und halb in die Augen fallend, und ich denke daran, wie sie in diese Kapuze Rotz und Wasser geheult hatte, ihr Vater war gestorben, und sie zog die Schnüre so fest, dass ihr Gesicht nur noch ein roter zugezogener Kreis war, und sie zappelte in meinen Armen wie ein hilfloser Krebs, dem man den Schalenpanzer verklebt hatte.
Ich denke jetzt nicht mehr. Ich spreche. Das Aufnahmegerät knackt beim Einschalten.
,Was für ein Glück! Liebe Hörer, vor dem Mikrophon haben wir hier die Geliebte des Bombenlegers. Ein Exklusivinterview. Aus erster Hand die brandheißesten, intimsten Informationen.’
2. Sie hatte getanzt. Dort, wo es hässlich ist. Wo enganliegende Muskelshirtträger dir weis machen wollen, dass die Welt Stil hat. Es war laut gewesen. ,Ich kann meine Gedanken nicht hören‘, hatte Josephine mir ins Ohr geschrien und hatte dabei ihre rötlich schimmernden Haare den Hals entlang nach oben gewunden, als könne sie dadurch den Lärm in ihrem Kopf ins Unermessliche steigern. Ich beugte mich zu ihr hinunter und küsste sie, und sie tanzte weiter ihren schlängelnden Solopart, während die Meute um uns herum gaffte und Josephine mich hin und wieder am Arm berührte, als wolle sie sich davon überzeugen, dass noch jemand da sei aus dieser anderen Welt, jemand, der nicht Lärm, Schweiß oder die flimmernde Dunkelheit grinsender Hormonfressen bedeutete.
3. Mein Gesicht sieht nicht gut aus. Verbeult irgendwie. Es ist immer noch dasselbe, aber die Proportionen stimmen nicht mehr, wie bei einem Pullover, den man zu heiß gewaschen hat, aus dem Trockner zieht und denkt, okay, es ist immer noch mein Pullover, aber gut aussehen, nein, das werde ich in diesem Ding nicht mehr. Das Dorf interessiert mich nicht. Fachwerkhäuser, saubere, gerade Straßen, wenige, fast leer, paar Rentner halt, überall der Geschmack von Kuhscheiße von dahinter, als wären das alles hier nur Fassaden, Zivilisation, heute, modern, dahinter die richtige Welt, Düngerkacke. Ich halte mich an die Fassaden, weil das leichter geht, hangle mich von Schaufenster zu Schaufenster, und meine Gesicht wird nicht besser von Schaufenster zu Schaufenster, es bleibt gleich, gleich falsch und verbeult und dasselbe. Leerer Friseur, leerer Getränkemarkt, wohl eher ein Schnapsladen, leerer Laden für was auch immer. Vor dem letzten Schaufenster bleibe ich stehen. Mein verbeultes Gesicht lächelt, sagt mir das Schaufenster. Die Ecke eines Schneidezahns ist weggebrochen. Gut so. Spiegelbilder verheimlichen dir nichts, das ist mal ein Anfang, daran kann man sich halten. Hinter meinem Spiegelbild grinst mich eine nackte Homöopathiesalben-Schlampe an, die aussieht, als hätte sie schon lange keiner mehr eingecremt. Man kann ihre Brustwarzen nicht sehen. Damit beschäftigen sich Werbefuzzis heutzutage, nein, die meisten Menschen überhaupt beschäftigen sich mit nichts anderem, wie man eine gestörtes, cremegeiles Model auf einem noch gestörterem Stück Glanzpappe sich so verrenken lassen kann, dass man zwar nackte Haut sieht, aber sonst nichts. So was in der Art war auch mein Job. Geil und nichts. Nur halt mit Worten. Geil werden und werden lassen, aber nicht zu sehr, damit man geil bleibt. Das ist New Economie.
4. Sie nannten ihn den Code ,Lost’. Sie hatten uns darauf vorbereitet, in den verrauchten Kellern und nach Urin stinkenden Lagerhallen, in denen wir uns all monatlich trafen. Wir müssen euch darauf vorbereiten, hatten sie gesagt, denn das ist das, was sie wollen, sie wollen uns allein, während sie viele sind. Wir ließen uns rekrutieren. Von den Hardlinern, den Inoffiziellen. Sie brachten ihn uns bei, Straßenkampf. Den Code Lost, wenn du allein bist. Und das wärst du als einer von ihnen dauernd, grade gegen die Nazis. Nicht stehen bleiben, das ist das wichtigste. Sobald es losgeht und du stehen bleibst, können sie dir alles brechen, vom Rücken bis zum Genick. Hinlegen, Knie über den Bauch, Hände ins Genick, Gesicht nach unten, schreien, solange es geht. Nazis verlieren die Lust, sie wollen, dass man sich wehrt, auch wenn es keinen Sinn macht. Rechtfertigung ihrer Feigheit.
5. Josephine steht nackt mitten im See und hat die Arme ausgebreitet. Über ihr schieben sich schwarze Wolkenwände zu einem drohenden „Du hast es so gewollt“ zusammen. „Ich will es“, schreit Josephine, „ich will es einfach.“ Stella scheint nicht ganz so sicher, ob sie es will. Hannes ist zu besoffen, um überhaupt zu begreifen, worum es hier geht. Ein greller Blitz frisst sich den Himmel hinunter. Die zwei Teile des Himmels explodieren. „Ich will es“, schreit Josephine. Hannes lacht. Stella zittert. Ich schweige. Bald hat sie es. Bald hat sie das, wofür sie sich ihr Leben lang verbeugen musste. Sie wird nicht berühmt sein. Aber sie wird auch nicht mehr weiteratmen müssen.
6. Donnersbergerbrücke, da ist schon das blaue Schild, Autobahn Garmisch. Hannes entscheidet sich ausnahmsweise zu bremsen, allerdings spät und ruckartig, mit quietschenden Reifen und rüttelndem ABS. Mein Kopf wird nach hinten geschleudert und da ist wieder das Brennen in meinem Genick, wie Nadelspitzen mir zwischen den tauben Stellen ins Rückenmark stechend. Direkt neben uns haben zwei Bullen auf dem Bürgersteig geparkt, hocken auf ihrer Motorhaube, qualmen, schauen herüber. Hannes nickt, staatsbürgerlicher Blick. Er hält die Luft an und wischt sich die Hände an seiner Lederjacke. Josephine murmelt ,Scheiße‘. Ich murmle nichts. Ich wische mir auch nichts ab. Es ist zu lange her. Die rote Ampel brennt grell über uns. Sie wird nicht grün, sie wird niemals grün. Ein Polizist wirft seine Zigarette von sich und stellt sich gähnend auf seine Füße. Hannes trommelt mit nassen Fingern auf sein Lenkrad. ,Scheiße‘, murmelt Josephine, ,scheiße, scheiße, scheiße.‘
7. Keine Ahnung, wie wir es über die Grenze geschafft haben. Ehrlich gesagt rechneten wir damit, verhaftet zu werden. So clever seien die Bullen grade noch, hatte Hannes gesagt, und: Ein Anruf bei der Bundespolizei und das war‘s. Sie haben uns nicht angehalten. Wir wandten meine schnell erdachte und nie getestete Porno-Taktik an. Die Angst vor einer sexuellen Belästigungsklage würde einfach jeden Beamten lähmen, behauptete ich selbstbewusst. Hannes Taktik überstimmten wir, der irgendwas von Klingonen und ,Heute sei ein guter Tag zum Sterben‘ laberte. Nazi und Trekki, das wird ja immer besser hier. Hannes hatte grummelnd mir das Steuer überlassen und auf der Rückbank sein Gesicht in Stellas Schoß versenkt. Stella hatte geweint und es nicht mal gemerkt.
Josephine setzte sich nach vorne, zog ihr T-Shirt aus und drückte die Titten aus ihrem Baumwollhemdchen raus und gegen das Seitenfenster. ,So was funktioniert nicht‘, hatte sie mit starrem Lächeln gemurmelt, während die hellen, riesigen Betonsäulen der Grenze wie verschwommene Schatten an uns vorüber huschten, ,so was funktioniert nur in dummen Pornofilmen, und auch nur dann, wenn man sich von allen Beamten später in den Po ficken lässt.‘ Die Beamten fickten sie nicht in den Po. Sie grinsten noch nicht mal verschämt, sie gähnten nur müde und winkten uns durch. Auf der gesamten Strecke der österreichischen Autobahn pries ich mich als den genialen Erfinder dieser ultimativ wirksamen Porno-Taktik. Meine Mitfahrer ließen es schweigend über sich ergehen. Wir wussten alle, dass es nicht daran gelegen hatte.
8. Die Rollladen sind runter gelassen. Genau drei ein halb Spalten Licht. Draußen Sommer. Kindergeschrei. Günter Jauch mit italienischen Untertiteln. Es gibt wohl kaum ein größeres Gefühl von Isolation.
Hannes schaltet den Fernseher aus. ,Was soll die Scheiße?’ Josephine mault. Sie wollte gerade raten, welche von vier Reissorten in China am meisten gegessen werden. Sack Reis, der umfällt. Bum. Günter Jauch grinst. ,Sie wissen, wie viel sie verlieren können?’ Die dünne, farblose Architekturstudentin schwitzt. Sie weiß es. Sie sieht ihr Mini-Cabrio davonfahren, inklusive des Sportstudenten, den sie damit abschleppen wollte. Letzte Chance. Eingeloggt. Der Bildschirm wird schwarz. Ich knie mich vor das einzige Doppelbett und platziere meinen Oberkörper irgendwo zwischen Stella, Josephine und dem erschöpft sabbernden Kälbchen. Das Lacken schmeckt nach süßem Schweiß und junger Kuh. Dunkelheit. Das ist mein Leben. Eingeloggt. Für immer. Vier Antwortmöglichkeiten, eine gewählt, keine Auflösung. Bis irgendwann jemand den Aus-Knopf drückt.
9. Game over. An jedem Ausgang der Spielhalle steht ein höllisch schwitzender Carabinieri mit breit gemachten Beinen und wir sind mittendrin, gefangen im Lärm der Computer und Menschen. Tausend lärmende Bilder bohren sich in meine Augen, während sich um mich herum alles zu drehen beginnt, ein fetter, bärtiger Kerl mit fleckigem Jörg-Haider-T-Shirt steht auf dem Kopf und rülpst mir ins Gesicht ohne sein Plastikgewehr loszulassen und ich greife nach Stellas Hand, weil ich dann vielleicht wieder das Meer hören kann oder die Stille, die blaue, leuchtende Stille, die man nur Nachts hört und auch nur dann, wenn man leise ist und vorher von einer Expertin genauestens darüber informiert wurde. Ich drücke fest zu, ihre Hand ist von Schwielen übersät und müde stelle ich fest, dass ich jetzt mit Angelo Händchen halte und der Ode-Cousine Skinhead zerrt mich an der Hand hinter einen Vorhang und dann falle ich plötzlich und alles wird schwarz und still, so still, dass ich gar nichts mehr höre außer mich selbst und gleich darauf auch das nicht mehr.
10. Alles ist plötzlich wieder da. Kurz vorm Aus. Stella schlägt die Hände vor ihr rundes Gesicht, wie bei einem Horrorfilm, wo man wartet, bis die schlimmsten Szenen vorbei sind und man endlich wieder die Augen aufmachen kann. Josephine lächelt mich an, bleich. Ich habe ihr Lächeln nie verstanden. Jetzt wird es das letzte sein, was ich sehe, der Abschluss von allem, wenn man so will. Angelo setzt seine Pumpgun auf meinen Schädel an, während er leise Worte in seinen Schlagring hinein murmelt, als spräche er noch ein Gebet, um sich Gottes Segen für die ganze Sache einzuholen.
Dann explodiert die Welt. Trampelnde Schritte, beißender Rauch, Schreie. Schatten von allen Seiten, wie früher, wenn sogar die Gesichter verschwanden. Ich liege auf dem Boden, über mir die ewige Narbenfresse, blutüberströmt, sein Messer in der zitternden Faust. ,Du kommst mir nicht davon. Du nicht. Du hättest dich damals besser vergewissern sollen, ob ich auch wirklich tot bin. Das kommt davon, wenn man das Spiel nicht zu Ende bringt.‘
11. Wenn an einem Mädchen Boxershorts sexy ausgesehen haben, dann an Josephine. Sie hatte den Sex des Einfach Egal Seins. Des ,zwängt eure Ärsche ruhig in kneifende Tangas, ich bin trotzdem die Geilste‘. Man konnte sich mit ihr tagelang wegschließen, ohne den leisesten Zweifel zu haben, dabei etwas zu verpassen. Mädels, die immer String tragen, habe davor die größte Angst. Irgendwo mal nicht dabei zu sein. Josephine wollte nie irgendwo dabei sein. Sie wollte nur nicht allein sein.
12. ,Ich will es’, sagte sie damals und: ,Wenn ich nicht mit dir schlafe, heule ich nur, und ich will nicht mehr heulen.’ Sie streifte das schwarze Kleid von ihrem Körper, als wäre es eine Uniform. Ich musste mich konzentrieren, und als es ging, lag sie unter mir wie ein Stein. ,Hast du meine Mum gesehen?’, fragte sie in mein keuchendes Gesicht und ihr harter Körper wurde von einem wilden Lachkrampf geschüttelt. ,Sie ist wirklich gekommen. An diesem Tag hat sie sich mal die Zeit genommen, zu kommen.’ Als ich kam, hörte Josephine auf zu lachen. Sie stand einfach auf, nackt wie sie war und lief aus ihrem Zimmer. Es gab niemanden mehr, dem sie auf dem Flur begegnen konnte. Ich hörte, wie sie sich im Badezimmer erbrach. Ich packte meine Sachen und floh. Ich wusste, wenn ich sie in dieser Nacht allein ließ, würde das alles ändern. Es gibt einfach Nächte, da darf man niemanden allein lassen. Oder es bleibt etwas zurück.